Wüstung Jahrsau

Manchmal habe ich Besuch hier oben, beziehungsweise hier unten, denn meine Gäste kommen diesmal aus Hamburg und Schleswig-Holstein. Simon und Heiko sind da. Westbesuch! Das bedeutet Tage des fetten Schlemmens und tüchtigen Trinkens. Damit es nicht komplett gastroenterophal endet, machen wir Ausflüge in die Gegend. Allerdings kann man auch Autowandern. Dafür eignet sich der alte Mercedes von Simon und ich hatte mir eine besondere Tour überlegt. Wenngleich ein größerer Unfall in diesem Gefährt unweigerlich tödlich enden dürfte, stürben wir dafür bequem in den federnden Sitzen des Fahrzeugausstattungsstandarts der frühen achtziger Jahre. So heiter die Stimmung sein mag, das Ziel läßt sie unangemessen erscheinen. Es sollte zur Wüstung Jahrsau gehen. Das ehemalige Dorf lag so nah an der einstigen Grenze, daß ein Großteil seiner Bewohner im Jahr 1952 bei der sogenannten Aktion „Ungeziefer“ aufgrund von vermuteter politischer Unzuverlässigkeit deportiert worden waren. Die letzten Häuser wurden Anfang der siebziger Jahre abgebrochen. Etliche Ortschaften fielen dieser ideologischen Verblendung zum Opfer und fast 10000 Menschen verloren ihre Heimat.

Das Navi führte uns nun erstmal in die Irre und zeigte einen Weg über den Westen, also übers Wendland, um an die Wüstung Jahrsau heranzukommen. Ich äußerte schon meine Zweifel, ob das möglich sein würde, denn ein Weg ist dort wohl kaum. Gräben, dichtes Buschwerk müßten wir überwinden und durchqueren, wenn wir den Grenzübertritt von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt wagen wollten am grünen Band, wie der ehemalige Todestreifen nun so romantisch heißt. Also kehrten wir wieder um. Erneut fuhren wir durch Volzendorf und Ritze und erneut konnte meine katholische Freundin, die auch mit an Bord war, drei postpubertäre Gliedträger beim Anblick der Ortsschilder feixen hören. Männer, man muß sie schon lieben, um sie mögen zu können. Wir fahren mit 20 km/h über NVA-Plattenwege und richtig sicher sind wir uns nicht, ob wir auf diese Weise ankommen werden oder den ADAC anrufen müssen. Der Pflanzenbewuchs in der Mitte des Wegs zwischen den Betonplatten ist in diesem vergleichsweise regenreichen Sommer so hoch aufgeschossen, daß er bedenkliche Schleifgeräusche an der Unterseite des Wagens erzeugte. Simon erkundigte sich bereits nach meiner Haftpflichtversicherung. „Nur noch drei Kilometer“, sagte Heiko, der die Rüttelstrecke in seinem Handy als einen harmlos anmutenden digitalen Wegstrich auf Google-Maps mitverfolgte. „Seht es doch mal so, es wäre doch total anstrengend gewesen, mit dem Fahrrad diese ganze Strecke zu fahren“, gab ich zu bedenken. „Werkstattrechnung geht nach Halle, wie war noch gleich Deine Adresse“, antwortete Simon. Kurz vorm Ziel kam es ihm so vor, als rieche es etwas verbrannt. Die Geruchshalluzination eines empfindlichen Autoliebhabers - hoffentlich. Wir bogen ein auf die alte Kopfsteinpflasterdorfstraße (komisch eigentlich, daß sie die damals nicht an den Westen verscherbelt haben, aber wahrscheinlich konnte man auf ihr zu gut mit dem NVA-Kübeltrabi an die Grenze fahren), bis ein rostbraunes Mahnmal anzeigte, daß wir angekommen waren. Simon stoppte den Wagen und fürchtete, daß vom Motorblock eine Hitze ausgehen würde, die noch das Gras darunter entzünden könnte. Es dräute die Schlagzeile: Hamburger verursacht Waldbrand mit Oldtimermercedes.

 

Vor uns lag ein Waldstück, in das ein beschilderter Pfad führte, der von Bürgern angelegt worden ist, die den Ort Jahrsau und das, was mit ihm willentlich geschah, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Es finden sich in dem darübergewachsenen Wald noch Grundmauern, Wegplatten, Brunnenübereste. Zurückgebliebene Gebrauchsgegenstände der Vergangenheit baumeln als Gedenkgegenstände in den Bäumen oder lagern abgelegt auf den Mauerresten. Schilder wurden aufgestellt mit den Namen derjenigen, die an dieser Stelle ihren Bauernhof hatten. Das Ganze erscheint wie ein überwucherter Friedhof für das Dorf selbst. Vermooste Steinhaufen. Eine verwitterte Viehtränke. Eine seltsame Faszination trieb mich und meine Freundin seitlich und tiefer hinein. 


     



Am Ende fanden wir aber auch wieder hinaus. Direkt am Mahnmal gab es einen Holzkasten, der einen angeketteten Stempel samt Stempelkissen enthielt. Hier kann sich der deutsche Wanderer seinen Beweisstempel abholen, daß er hier gewesen war. Ich drückte den Stempel in mein Notizbuch.

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