Abschied

 

Es gibt das Parissyndrom, das offenbar sehr oft Japaner befällt, die die Erwartung, die sie über die Stadt hegen, nicht mit deren Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen können; es gibt das Jerusalemsyndrom beim Besuch der heiligen Stätten, wenn jemand auf die Idee kommt, er sei tatsächlich Jesus selbst; und es gibt das Post-Salzwedel-Syndrom, das einen ereilt, nachdem man drei Monate lang in Salzwedel gewesen war und nun - zurück nach Halle gekommen - sich mit dem ganzen Elend der aufgestauten Büroprobleme konfrontiert sieht, die man so wunderbar über den Sommer verdrängt hatte. Was wollen die Ämter von mir? Und schon will ich nach draußen gehen, zu Lerches Eiscafé, und eine Kugel gebrannte Mandel und eine Pistazie verspeisen, und so wie das Eis schmilzt, zergehen auch die Sorgen, und mit dem Rad fahre ich hinaus in die weite Landschaft zum Salzwedeler Stadtwald im Norden, vorbei an den in der Sonne blitzenden Edelstahlrohren von Neptun-Erdgas-Anlagen, die die letzten seit den Sechzigern hier angezapft werdenden Vorkommen aus den Tiefen der Altmark nach oben befördern, vorbei an Torfmooren und vernagelten Grenztürmen, über mir die ersten Züge der Wildgänse nach Süden, ihr Geschrei ist seit einer ganzen Weile mal wieder ein hörbares Geräusch, bis sie hinweg- und weitergezogen sind, dann halte ich an und es ist nichts (oder „nüscht“) und ich schau mich um und begreife, daß ich hier ganz für mich bin. Klar, es gibt dahinten ein paar Kühe, die vor sich hin grasen und auf dem Baum - da weit hinten - sitzen noch Krähen, die seit Jahren schon keine Lust mehr haben, mühsam hin und her zwischen Taiga und Altmark zu fliegen, sondern gleich hierbleiben, und warum auch nicht. Ich denke an die Telefonnummer, die auf dem Zettel an der Scheibe des Fachwerkhauses an der Ecke der kleinen Predigerstraße zu lesen ist mit dem Hinweis „zu verkaufen von privat“. Und ich denke an meine beiden linken Hände und an den Stand meines Kontos und daß ich Salzwedel auch nur von der sommerlichen Schokoladeneisseite betrachtet habe, und daß es bestimmt auch ganz verdammich trist hier im Winter werden kann, und blicke auf, an meinem Schreibtisch in Halle sitzend, und sage nicht leise Servus, dafür jedoch: Auf Wiedersehen.    



  

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