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Abschied

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  Es gibt das Parissyndrom, das offenbar sehr oft Japaner befällt, die die Erwartung, die sie über die Stadt hegen, nicht mit deren Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen können; es gibt das Jerusalemsyndrom beim Besuch der heiligen Stätten, wenn jemand auf die Idee kommt, er sei tatsächlich Jesus selbst; und es gibt das Post-Salzwedel-Syndrom, das einen ereilt, nachdem man drei Monate lang in Salzwedel gewesen war und nun - zurück nach Halle gekommen - sich mit dem ganzen Elend der aufgestauten Büroprobleme konfrontiert sieht, die man so wunderbar über den Sommer verdrängt hatte. Was wollen die Ämter von mir? Und schon will ich nach draußen gehen, zu Lerches Eiscafé, und eine Kugel gebrannte Mandel und eine Pistazie verspeisen, und so wie das Eis schmilzt, zergehen auch die Sorgen, und mit dem Rad fahre ich hinaus in die weite Landschaft zum Salzwedeler Stadtwald im Norden, vorbei an den in der Sonne blitzenden Edelstahlrohren von Neptun-Erdgas-Anlagen, die die letzten seit den Sec

Tag der Schiene

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Als ich neulich gegen 22 Uhr Olaf und Judith, die mich besuchen wollten (wegen Zugausfalls nahmen sie eine Route über Aschersleben), vom Salzwedeler Bahnhof abholen ging, las ich auf der digitalen Bahnsteiganzeige in Dauerschleife den Spruch: „Tag der Schiene. Feiern Sie mit!“    Hätte ich das gewußt, hätte ich doch glatt ein Piccolöchen mit auf den Bahnsteig genommen und jetzt den Schraubverschluß zischen lassen, um einfach mal mitzufeiern auf die trillionste Verspätung der Deutschen Bahn. Zwischen Magdeburg und Uelzen, mit Stopp in Salzwedel, verkehrt übrigens der berühmt überfüllte Regionalexpress, der die Reisenden dann in Uelzen auf den Hundertwasserbahnhof mit den dreistelligen Bahnsteignummern ergießt, dessen Unterführung eine Gleichgewichtsherausforderung für verzweifelte Omis mit Rollkoffer darstellt, weil Hundertwasser ja mit so einem stinknormalen Weg, der einfach nur glatt und eben gebaut worden wäre, nicht so viel anfangen konnte. Uneben wie das Leben stolpert man von Glei

Backstein und Glocken

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„Sind die Kirchenglocken noch so penetrant?“, fragte mich zu Beginn meiner Stipendiatenzeit auf Facebook eine Autorin, die hier auch schonmal Stipendiatin war. Offenbar eine geplagte Stipendiatin. Und ich gab ihr zur Antwort: „Wunderbar penetrant!“ Was wohlweislich nicht in die Ausschreibung des Stipendiums reingeschrieben wird, obwohl eine Vorwarnung an Leichtschläfrige und Hellhörige angebracht wäre, damit sie sich vorab wenigsten mit ausreichend Ohropax versorgen können, ist nämlich der Umstand einer ganztägigen Dauerumbimmelung durch die Glocken- und Zeitschläge der Marienkirche, deren schiefe Dachhaube wie der gekrümmte Stoßzahn eines riesigen Nashorns weitum in der Landschaft zu erblicken ist und deren Glockengeläut die akustische Zeitanzeige für die Bewohner in den umliegenden Fachwerkhäusern seit Jahrhunderten bedeutet.     Blick aus dem Fenstergeviert des "Arbeitszimmers".  Bekanntlich ist Schlafentzug eine Foltermethode und die Glocken der Marienkirche brauchen sich

Lost in Salzwedel

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Wenn man in der Perver-Vorstadt ein paar verwinkelte Wege seitlich fährt, kommt man zu einem aufgegebenen Werk mit ausgedehnten Hallen und Gebäuden, die man ohne Absperrungen leicht betreten kann.    Die perfekte Filmkulisse für die letzten Minuten des nächsten Tatorts, sobald den Kommissaren plötzlich klar wird: Richtig! Auf dem Gelände des alten Chemiewerks muß das Versteck des Entführungsopfers sein, das, sollte man nicht mit Höchstgeschwindigkeit nun gleich dort auftauchen, das Ende des Krimis nicht überleben würde. Das Gelände erinnert auch an die Todeszone in Tarkowskis „Stalker“, einer der längsten und langsamsten, aber keinesfalls langweiligen Filme, die ich gesehen habe. Der Film wurde im noch sowjetischen Estland in Tallinn, auf einem alten Fabrikgelände, und außerhalb Tallinns in der Nähe eines von Industrieabwässern verseuchten Flüsschens gedreht. Etliche Beteiligte an dem Film sind Jahre später an Krebs verstorben, darunter Tarkowski selbst, weil sie mit dem Wasser in Berü

Die wilde, verwegene Salzwedeler Jagd

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  Was rennt dort in Richtung Elektrozaun?   Ist das jetzt wirklich reell.   Ich will doch gar keine Schäfchen klau’n. Jetzt heißt es, in die Pedale haun. Ein bellender Berg aus Fell Erscheint auf der Stelle, Hund sei’s geklagt, Das ist des Herdenschutzhundes Jagd.   Er bellt dort zum Schutze der Schafe allein, Ich fahr vorbei mit dem Rade, sehr schnell, bevor er noch schnappte mein Bein, Normalerweise würd ich gern schrei‘n, Das bringts aber auch nicht gerade. Und wenn ihr nach dem Ergebnis fragt: Die prompte Zerfleischung wurde vertagt.   (Frei nach "Lützows wilde, verwegene Jagd" von Theodor Körner. Denn beim Dichten trink ich Korn um Körner und dann von vörner.) Na gut, dann esse ich heute kein Schaf.