Lost in Salzwedel

Wenn man in der Perver-Vorstadt ein paar verwinkelte Wege seitlich fährt, kommt man zu einem aufgegebenen Werk mit ausgedehnten Hallen und Gebäuden, die man ohne Absperrungen leicht betreten kann. 

 

Die perfekte Filmkulisse für die letzten Minuten des nächsten Tatorts, sobald den Kommissaren plötzlich klar wird: Richtig! Auf dem Gelände des alten Chemiewerks muß das Versteck des Entführungsopfers sein, das, sollte man nicht mit Höchstgeschwindigkeit nun gleich dort auftauchen, das Ende des Krimis nicht überleben würde. Das Gelände erinnert auch an die Todeszone in Tarkowskis „Stalker“, einer der längsten und langsamsten, aber keinesfalls langweiligen Filme, die ich gesehen habe. Der Film wurde im noch sowjetischen Estland in Tallinn, auf einem alten Fabrikgelände, und außerhalb Tallinns in der Nähe eines von Industrieabwässern verseuchten Flüsschens gedreht. Etliche Beteiligte an dem Film sind Jahre später an Krebs verstorben, darunter Tarkowski selbst, weil sie mit dem Wasser in Berührung gekommen seien. Aber vielleicht sind sie auch nur zu sehr mit jenem Wässerchen in Berührung gekommen, daß immer noch etliche Russen vorzeitig aus dem Leben reißt und das in Sto Gramm bemessen wird. 

 

Da ich nicht achtlos durch die Straße hierhin geradelt bin, kommt mir nun auch wieder der Gedenkstein draußen auf dem Bürgersteig in den Sinn, der daran erinnert, daß sich auf diesem ausgedehnten Gelände einst auch die Außenstelle des KZs Neuengamme befand.

 

 

Es wird mir doch langsam unheimlich auf diesem Gelände. Das Knirschen der Glasscherben unter den Sohlen und das Gekreisch eines aufgeschreckten Vogels, der den Aufschrecker, also mich, jäh erschreckt hat. Das Gelände will kein Ende nehmen. Ich sollte besser zu meinem Fahrrad zurückkehren, bevor ich im nächsten Moment durch eine Eisenstange niedergestreckt werde.  

 

Nachts treffen sich hier bestimmt Jugendliche zu wilden Partys. Es gibt ja für einen jungen Mensch nichts Schöneres, als in einem düsteren, von Glasscherben übersäten Gebäude, in dem verletzungsgefährliche Eisenteile in den Raum ragen, alkoholisiert und zugekifft durch die Kante zu stolpern und am Ende mit einer Schnittverletzung im Krankenhaus zu landen. Was hätte ich als Jugendlicher darum gegeben, sowas auch mal erleben zu können, aber ich war irgendwie immer zu vorsichtig für wilde Partys mit Schnittverletzungen. Ich habe mir auch noch nie was gebrochen. Wird also höchste Zeit. Ein paar Tage habe ich dafür noch in Salzwedel. Und das Salzwedeler Krankenhaus habe ich von innen ja auch noch nicht gesehen.

Ganze Generationen Graffitikünstler haben hier ihr ersten Farbdosen geleert und praktischerweise auch entsorgt. Und wenn ich hier reinfalle, kriege ich in ein paar Jahren bestimmt auch Krebs wie Tarkowski. Vorher muß ich bloß noch rechtzeitig so berühmt werden wie er.


 

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