Tierpark

Wenn ich abends im Hof des Stipendiatenhauses sitze, höre ich ab und zu ein markantes Ia Ia Ia. Nanu, wer ruft denn da? Gleich hinter der Stadtmauer, die den Hof, in dem ich nach harter Schreibfron sitze, begrenzt, auf dem Landstück zwischen Pfefferteich und Dumme, erstreckt sich nämlich der kleine Tierpark von Salzwedel. Morgens wird er aufgeschlossen, abends wieder abgeschlossen, ansonsten kann man dort ein und ausgehen, so oft wie man will. Eintritt muß nicht gezahlt werden. Sehr viel aus der Welt der Fauna kriegt man dort ja auch nicht geboten. Ein paar Säuger und Vögel, und das war es auch schon. 

Zwei Esel freunden sich an. 

Das Besondere an diesem Tierpark ist allerdings, daß die Tiere sehr auf die sie besuchenden Menschen reagieren. Sie kommen an die jeweilige Begrenzung ihres Geheges gelaufen, meckern und mähen, grunzen und schnattern, hupten und klingelten, wenn sie es denn könnten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Was wollen die alle von mir? Am Eingang links gucken mich Esel und Pony an, etwas weiter rechts kommen kleine Schäfchen und ruppige Böcke herangesprungen. Auf dem Gehwege vor mir wegelagert wiederum ein Clan freilaufender Haus- und Wildgänse. Was sie wollen, wird schnell klar. Kurz hinter dem Eingang steht ein Automat. Für einen Euro kann man dort Futter erwerben. Der Vorgang ähnelt dem bei einem Kaffeeautomaten. Seitlich aus einem Spender zieht man sich einen Pappbecher heraus, stellt ihn in das dafür vorgesehene Fach, wirft das Geldstück ein, betätigt einen Drehknopf, das Futter schießt nun mit einer Wucht in den Becher hinein, daß er mir natürlich umkippt und die Hälfte des Futters auf den Boden fliegt. Tierparkanfängerfehler, der sofort ausgenutzt wird. 

 

Ich war umringt von aggressivem Gänsefedervieh, das fauchend und zischend an meinen Beinen vorbeischlawenzelte, kaum daß ich den Becher gerettet hatte, in den sie auch schon gleich hineinschnäbeln würden, hätte ich den Becher nicht hochhaltend mein Rad genommen, das mir einen gewissen Schutz bot, und mich zurückgezogen wie Napoleon nach der Völkerschlacht bei Leipzig. Zum Glück ließen die Gänse von mir ab, weil sie beschäftigt waren, die verbliebenen Futterpellets unter dem Automaten mit viel sich gegenseitig mißgönnendem Zank zu verzehren. Mit dem Becher in der Hand bin ich natürlich für den Rest der pawlowsch konditionierten Tierparkbewohner ein sehnlichst angebettelter Gast. Ein großer Bock mit Spitzbart stellt sich auf die Hinterbeine, stützt sich mit den Vorderhufen auf dem Metallzaun ab, reckt seinen Kopf zu mir, um aus meinem folgsam hingehaltenen Becher zu naschen. Schweinchen streben quiekend heran, ihre Mütter wackeln behäbig herbei, um das ihre einzufordern. Sie wissen, was sie von mir erwarten können. 

 

Auf dem Weg von Tier zu Tier muß ich slalomlaufend einen Parkour von Ausscheidungen durchqueren, die dicht an dicht von den überfressenen Kack-Gänsen wie Tretminen vor der ersten russischen Verteidigungslinie gelegt wurden. Der Geruch in diesem kleinen Tierpark ist dementsprechend streng, aber man gewöhnt sich daran, denn obwohl man weiß, daß die Tiere von einem nur das eine wollen, ist das alles doch irgendwie anrührend. 

 

Auch die nichttierischen Säuger sind hier drollig. Ein Mädchen steht am Zaun, sieht die kleinen Schweinchen und fragt die Mutter pragmatisch: „Wann werden die geschlachtet?“ Beste Vorrausetzungen, um später mal tätig zu werden als Fleischfachverkäuferin. Eine Mutter steht mit ihrem Zweijährigen am Automaten, will ebenfalls Futter ziehen, schon sind die Gänse da, hilfesuchend dreht sie sich zu dem Vater ihres Nachwuchses um und ruft, „mach doch was“. Der Gatte sieht sich nun mal wieder gefragt in der klassisch männlichen Rolle des Beschützers und fährt mit dem Kinderwagen den Gänsen in die Parade, drängt so die gefiederte Gefahr ab, nicht ohne den potentiellen Gänsebraten auf Watschelfüßen noch die Zukunft zu prophezeien: „Paßt uff, Weihnachten ist och nicht mehr lang.“ Seltsamerweise steht nicht weit entfernt vom Automaten mit dem Tierfutter ein Schild, das darüber belehrt, warum man die Tiere im Tierpark nicht füttern soll. Weil die Tiere, so liest man, einen anbetteln würden, sich gegenseitig im Futterneid bekämpfen und überdies der Gefahr der Überfütterung ausgesetzt sind. Also alles, was man derzeit im Tierpark erlebt. Wenn jedoch Besucher keine Tiere füttern sollen, warum stellt man dann einen Futterautomaten am Eingang auf? Das ist wie ein Zigarettenautomat in der Lungenkrebsstation oder eine Minibar bei den anonymen Alkoholikern. Soll damit die Vernunft der Menschen getestet werden? Durchgefallen, Homo sapiens! Wer diesen Widerspruch aufzulösen vermag, kriegt jedenfalls den Friedrich-Hegel-Sonderpreis für paradoxe Dialektik von mir überreicht. Und falls jemand geglaubt haben sollte, der Automat verhinderte zumindest, daß die Menschen eigenes Futter in den Tierpark bringen würden, dem empfehle ich ganz besonders einen Besuch im Tierpark, um sich von der Wirksamkeit der Maßnahme zu überzeugen. Aber bitte nicht vergessen, die alten Brotkanten einzustecken!


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