Der schönste Sperrmüllhaufen von Salzwedel

 

Neulich war in den Straßen um die Marienkirche herum Sperrmüll. Richtig klassisch, wie man ihn anderswo kaum, auch in Halle nicht mehr kennt. In Halle muß ich nämlich den Sperrmüll extra anmelden und auf die Anmeldekarte penibel vermerken, welche Dinge ich auf die Straße stellen werde. Woher soll ich das denn wissen? Ich bin doch kein Müllarchivar, der präzise Buch führt über den ganzen Krempel, der sich über Jahre auf unserem Dachboden und im Keller so anstaut. Himmelarsch. Dann lass ich das lieber bleiben mit dem Sperrmüll. Wir tragen die Dinge weiterhin bloß auf den Dachboden, zu dem riesigen Haufen, der sich dort bereits gebildet hat, und schließen dann schnell wieder die Tür. Irgendwann erhebt sich daraus eine künstliche Lebensform, die danach trachten wird, die Weltherrschaft zu übernehmen. Selber schuld, wenn die Menschheit plötzlich vernichtet wird. Dabei hätte es doch weiterhin so einfach sein können, wie hier in Salzwedel.   

 

Zu einem bestimmten Tag im Jahr darf man von sich selbst überrascht sein und Dinge einfach spontan auf die Straße stellen, von denen man nicht geahnt hätte, daß sie im Keller und Dachboden überhaupt noch ihr krempeliges Dasein gefristet haben. Im besten Fall kommt jemand vorbei, der einen Nutzen für sich daraus ziehen wird. Leider steht auch in der Salzwedeler Müllverordnung, daß der Sperrmüll in dem Augenblick, da man ihn auf die Straße verbracht hat, in das Eigentum der Stadt übergeht. Genaugenommen ist das Entnehmen von Sachen aus diesem Sperrmüll dann Diebstahl. Was ist das für eine knausrige Geisteshaltung! Nun muß ich bekennen, auch ich habe mich des Diebstahls schuldig gemacht. Denn natürlich übt ein solcher Haufen einen Reiz aus, ob nicht etwas Schönes, ein kleiner Schatz, unter den kaputten Stühlen, durchgelegenen Matratzen und Pressholzbadschränken im Endstadium zum Vorschein kommt. Zusammen mit meiner Freundin, die gerade zu Besuch ist, schlendere ich nun also von Sperrmüllhaufen zu Sperrmüllhaufen, geradezu magnetisch angezogen. 

An der Art und Weise wie der Müll auf die Straße gestellt wird, läßt sich noch – neben den Dingen selbst, die zu Müll deklariert werden – Spekulationen über den Charakter des vormaligen Besitzers anstellen.



Oft ist der Sperrmüll vor dem Haus weniger schön als der im Haus verbliebene.

 

 

Wenn man links ins Bild reinzoomt, findet man eine halbe abgestürzte Spielzeugluftwaffe. 


 

 Was wohl in den Säcken steckt?

 









Licht und Schatten.

Ich war nicht der Einzige, der sich für den Müll interessierte. Ein barfüßiger Mann schob fröhlich pfeifend sein bereits reichlich beladenes Fahrrad von Haufen zu Haufen und hatte offenkundig einen guten Fang gemacht. Es brauste ein Kleintransporter mit Metaljägern durch die Gassen. Ein Mensch mit Kapuzenshirt, dessen Kaputze er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, hummelte von Sperrmüllhaufen zu Sperrmüllhaufen wie von Blüte zu Blüte den Nektar aus dem Müll sammelnd.

Auch Stephan, mein Nachbar mit dem Fachwerkhaus, legte etwas zum Sperrmüll und nahm allerdings auch wieder etwas vom Sperrmüll mit. „Ein Stück mußt'e mit nach Hause nehmen", rief er mir zu. So ist der Kreislauf und Austausch innerhalb eines Gemeinwesens gewährleistet. Was ich besessen habe, könntest du einmal besitzen, und was du besitzt, könnte einmal mein sein.

Dann verriet ich, daß ich bereits eine Kiste mit Büchern entdeckt und ins Stipendiatenhaus geschleppt hatte. Auf der Kiste stand „Bücherbündel mit Spitze“, „Vintage Deco“. Tatsächlich, mit strumpfbandspitzeartigen Bändern im Verbund miteinander, fand ich den nicht mehr allzufrischen Körner, Tieck, Wieland, Seibel, Hebbel. Immerhin Goethe komplett, in 12 Bänden; etwas Schiller, Fontane, Kleist, et cetera. Und sogar zwei Romane von Richard Mason (keine Ahnung, wer das ist). Kriegs- und Vorkriegsware. Als "Vintage Deko" ist Goethe offenbar immer noch gut zu gebrauchen. Intellektueller Wandhintergrund bei Zoomkonferenzen. Gemütlichkeit erzeugender Goethe im Wohnzimmer oder kontrastgebender Hintergrundkulissengoethe beim Pornodreh. Unter Umständen könnte man ihn auch noch lesen. Hier zum Beispiel, in der Stipendiatenwohnung. Das Bücherregal dort war fast leer. Nun ist der Grundstein gelegt für die Kreisbibliothek im Stipendiantenhaus und meine Nachfolger haben endlich was Vernünftiges zum Lesen.




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