Fachwork in progress

Wenn ich mich auf mein Rad schwinge und von der Kleinen Predigerstraße zu Lerches Eiscafé oder zum Kaufland fahre, komme ich immer an einem Fachwerkhaus vorbei, wo ich von oben ein „Hallo Christian“ zu hören kriege. Auf dem Dach steht nämlich Stephan - in Zimmermannskluft und mit Strohhut - und deckt es gerade mit Ziegeln ein. 

 

Nicht etwa mit neuen Ziegeln oder am besten solchen, deren Oberfläche so dermaßen glänzt, daß man von diesem Anblick unweigerlich geblendet ist und sein Augenlicht auf der Stelle verlieren müßte, falls man noch etwas Geschmack im Leibe hätte, nein, er deckt sein Dach mit alten Ziegeln, geradezu historischen. Es seien sogar genau die Ziegel, so Stephan, die mal auf dem Dach jenes Hauses gelegen hätten, in dem Karl May achtzehnhundertnochwas polizeilich festgehalten worden sei und für ein oder zwei Tage seine Strafe abgesessen habe, hier oben in der Altmark, vermutlich wegen Flunkertums und ausufernder Kreativität bei der Wahrheit. Der fantasiebegabte Sachse war also nicht durchs Wilde Kurdistan gereist, dafür jedoch durch die wilde Altmark. Winnetou und Old Shatterhand ritten durch die endlosen Weiten zwischen Dumme und Milde und suchten den Schatz im Arendsee. Ich glaube ja fast, Stephan will mir einen Ziegel auf die Nase binden. Bevor man nun mit Google den Wahrheitsgehalt dieser Karl-May-Schnurre prüft und vielleicht eine gute Anekdote kaputtmacht, sollte man sich doch viel mehr darüber wundern, daß ein eher ungeselliger Autor wie ich so schnell Kontakt mit der heimischen Bevölkerung aufnehmen konnte? Zu meiner Entschuldigung, es lag nicht an mir, sondern an Stephan. Der Mann mit dem Fachwerkhaus grüßt jeden offensiv, der vorüberkommt und ein Interesse erkennen läßt an dem, was er da tut. Uns passierte das zum ersten Mal im Oktober 2020, als meine Freundin das Salzwedelstipendium erhalten hatte, da stand er nicht auf dem Dach, sondern baute noch unten im Flur. „Hallo ihr zwei,“ schallte es aus dem Haus heraus, „ihr seid also die neuen Künstler“. Ähm ja, woher wußte er? Sah man dies unseren durchgeistigten Gesichtern gleich an, daß wir einzig dem Künstlertum zuzurechnen waren? „Ihr kommt dahinten aus dem Stipendiantenhaus, da hab ich mal eiskalt kombiniert, daß ihr die Neuen seid, stimmts“, wurde ich prompt geerdet.

Ein paar tägliche Begrüßungen später führte mich Stephan schon durch sein Häuschen. Je nach Erhaltungszustand gibt es das schon ab 40000 Euro. Ich erfuhr, daß er gelernter Landschaftsgärtner ist, fast dem gleichen Jahrgang angehört wie ich (1976) und in einem der Dörfer unweit von Salzwedel gewohnt hat. Und was macht man, wenn es einem in Ritze, Vitzke oder Kleinkuhdingsbums ein bißchen zu piefig wird. Man zieht weg, in eine boomende Metropole, und landet dann natürlich in Salzwedel. Dort gibt es eine beachtliche Baumkuchenindustrie, ein Problemviertel namens Golanhöhe und sogar eine autonome Szene, die weltverbessernde Slogans wie "FCK AfD" oder "Schauer SAW" an die Fassaden malt (nicht ganz klar ist, ob sie damit den Radiosender SAW mit den Superhits für Sachsen-Anhalt meinen oder SAW, die US-amerikanische Horror-Thriller-Splatter-Serie; wobei der Unterschied nicht so groß sein dürfte. Das schöne Salzwedel wird ja wohl nicht gemeint sein)

 

Stephan zeigte mir in seinem Haus eine Lehmwand mit einer alten Malerei darauf, die hinter einer Holzverkleidung zum Vorschein kam. „Sowas überlebt nur die Zeiten, wenn man nicht alles komplett durchsaniert. Die meisten wollen es aber lieber schön ordentlich haben und dann verschwindet das.“ 

 "Das Fahrrad von Eva Braun", sagte Stephan und zeigte auf sein Rad.

Und jetzt, drei Jahre und schätzungsweise zehntausend Handgriffe von Stephan später, bin ich hier nach meiner Freundin der Stipendiat und sein Haus sieht, wenn ich ehrlich bin, nicht so aus, als ob sich seit unserer ersten Begegnung allzu viel daran geändert hätte. Aber genau das ist es ja. Es ist ihm gelungen, was eigentlich nur wenigen Denkmalprofis gelingt, etwas zu sanieren, ohne daß es auch so aussieht. Und wie macht man das? Indem man eben am besten so wenig wie möglich macht, und wenn, dann nur substanzschonend säubert, hier und da einen Balken ersetzt, bevor man etwas unwiederbringlich weg erneuert. Das kann natürlich ein paar Jahrzehnte dauern. Auf diese Weise brächte ich es auch noch zum Denkmalpfleger. Nichtstun ist schließlich meine Spezialität.

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